Mann sitzt mit Händen vorm Gesicht am Schreibtisch.  © Luis Alvarez / Getty Images

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Verletzlichkeit im Job: Geheimwaffe oder „No-Go“?

Emotionen sind menschlich, doch Menschlichkeit galt im Berufsleben lange Zeit als unangebracht. Mittlerweile wird ein gewisses Maß an Verletzlichkeit in vielen Unternehmen akzeptiert, manchmal sogar explizit erwünscht. Dieses Maß zu finden, gestaltet sich aber als Gratwanderung.


Im Job müssen wir funktionieren. Am besten jeden Tag und von Arbeitsbeginn bis zum Feierabend. Es ist allerdings nicht realistisch, jeden Tag Höchstleistungen zu erbringen. Denn auch Mitarbeiter sind „nur“ Menschen. Familienstreitigkeiten, finanzielle Engpässe, Krankheit, Ängste – solche und viele weitere Probleme können Deine Performance im Job zeitweise einschränken. Manche Betroffene fürchten dann direkt um ihren Arbeitsplatz. Doch in einer solchen, von Furcht geprägten Arbeitsatmosphäre kann niemand auf Dauer glücklich werden. Dies begreifen zunehmend auch die Unternehmen und lassen mehr Menschlichkeit in ihre Reihen einziehen. Das bedeutet, dass auf private Belange, auf individuelle Wünsche oder auf das körperliche Befinden der Mitarbeiter mehr Rücksicht genommen wird. Das bedeutet, dass über Emotionen oder Ängste gesprochen werden darf. Und das bedeutet, dass auch in Zeiten mit geringerer Performance nicht gleich die Kündigung droht, sofern sie eher die Ausnahme als die Regel bleiben. 

Die Arbeitswelt durchläuft eine Trendwende

Noch vor wenigen Jahrzehnten war es beinahe undenkbar, den Arbeitgeber nach flexibleren Arbeitszeiten zu fragen, um mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Auch wurde über Emotionen, Ängste & Co nicht gesprochen. Emotionale Ausbrüche wie Tränen waren sogar verpönt und sorgten schnell dafür, dass die Betroffenen beruflich ins Abseits gerieten. Ernst genommen wurde also nur, wer möglichst einer Maschine glich: emotionslos und zuverlässig. Natürlich gab es diesbezüglich bereits Unterschiede je nach Unternehmen. Doch flächendeckend zieht die Menschlichkeit erst seit kurzer Zeit in die Arbeitswelt ein. Grund dafür sind der Generationenwechsel sowie der Fachkräftemangel. Denn die jungen Nachwuchskräfte wünschen sich eine menschliche Arbeitsumgebung, in der sie sich wohlfühlen und entfalten können – eben nicht nur fachlich, sondern auch persönlich. Und Unternehmen, die diesem Wunsch nicht nachkommen, finden keine qualifizierten Fachkräfte mehr oder können sie nicht langfristig halten. Die Unternehmenskultur gewinnt also an Bedeutung und mit ihr auch die Frage: Wie viel Verletzlichkeit ist erwünscht?

Verletzlichkeit ist im Berufsleben ein schmaler Grat 

Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig zu verstehen, was Verletzlichkeit im Job überhaupt bedeutet. Sie bezeichnet den Mut, ganz Du selbst zu sein. Das betrifft Deine Emotionen, aber auch Deine Meinungen, Wünsche und Träume. Verletzlichkeit heißt außerdem, eigene Fehler zugeben und sich dafür entschuldigen zu können, ohne sein Gesicht zu verlieren. Wer sich vollkommen verletzlich zeigt, ist für sein soziales Umfeld sozusagen ein offenes Buch. Somit liegt auf der Hand, dass vollständige Verletzlichkeit im Berufsleben nicht möglich ist. Schließlich sind Arbeitskollegen und Vorgesetzte keine engen Freunde, mit denen du alles ungefiltert teilen solltest. Trotzdem ist es heutzutage in vielen Unternehmen nicht mehr notwendig, Berufs- und Privatleben vollständig zu trennen und im Arbeitsalltag eine professionelle „Maske“ aufzuziehen. Denn Verletzlichkeit in einem angemessenen Ausmaß macht sympathisch und fördert ein gutes Arbeitsklima. Somit wirst Du zum wertvollen Teammitglied und qualifizierst Dich eventuell sogar als Führungskraft. Denn auch die Empathie gewinnt bei Beförderungen mittlerweile als Entscheidungskriterium an Bedeutung.

Verletzlichkeit kann also tatsächlich eine Geheimwaffe sein, aber… 

…nur, wenn sie richtig umgesetzt wird. Mit einem gesunden Maß an Verletzlichkeit zeigst Du Dich im Job authentisch und empathisch. Das macht Dich zu einem beliebten Mitarbeiter und das Unternehmen wird daran interessiert sein, Dich langfristig zu halten. Dies eröffnet Dir eine gute Verhandlungsposition und hervorragende Karriereperspektiven, beispielsweise in einer Führungsposition. Zu viel Verletzlichkeit kann hingegen zum Problem werden, beispielsweise in Form von ständigem Tratschen über persönliche Probleme oder regelmäßigen emotionalen Ausbrüchen, sei es als Tränen- oder Wutausbruch. Vielmehr geht es darum, ein gegenseitiges Verständnis zu entwickeln und dadurch bessere Beziehungen im Arbeitsleben aufzubauen. Dadurch verringert sich zugleich der Perfektionsdruck und stattdessen wird die Kreativität (wieder) angeregt. Eine menschliche Arbeitsatmosphäre bedeutet zudem mehr Zufriedenheit bei den Mitarbeitern, mehr Motivation, geringere Krankenstände und eine höhere Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber – und damit ist die Liste an Vorteilen noch lange nicht zu Ende. Auch Studien konnten mittlerweile beweisen, dass Verletzlichkeit ein wichtiger Faktor für gute Teams ist. Denn sie bietet psychologische Sicherheit und genau diese ist es, nach der jeder Mensch automatisch sucht; bewusst oder unbewusst.

Junge Frau sitzt mit geschlossenen Augen in der Sonne © Westend61 / Getty Images
Stress, Krisen oder sogar Schicksalsschläge gehören leider für alle Menschen zum Leben. Jeder geht aber anders mit solchen schwierigen Situationen um. Die Resilienz ist dabei ein wichtiges Stichwort, das Dich beruflich sowie privat erfolgreicher macht.  

Fazit

Verletzlichkeit bringt psychologische Sicherheit und damit zahlreiche Vorteile im Berufsleben, sowohl für den Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer. Trotzdem muss die Verletzlichkeit im Job wohldosiert sein, um die Balance zwischen Professionalität und Menschlichkeit zu wahren. Ansonsten droht Dein Umfeld den Respekt vor Dir zu verlieren. Dies erfordert ein gewisses Fingerspitzengefühl und daher ist es ratsam, im Job langsam Deine Maske fallen zu lassen, falls Du bislang den alten Normen gefolgt bist. Probiere einfach aus, welchen Effekt es hat, wenn Du schrittweise mehr Emotionen zeigst. Und sollte es doch mal zu einem unangemessenen emotionalen Ausbruch kommen, kannst Du Dich dafür entschuldigen und Deinen Fehler zugeben. Auch das ist schließlich Verletzlichkeit. Der optimale Arbeitsplatz erlaubt Dir also, keine Masken mehr tragen zu müssen, ohne Dein gesamtes privates oder emotionales „Innenleben“ preiszugeben wie einst als Kind – Du brauchst sozusagen den richtigen Filter. Dann wird sie zur Geheimwaffe für Deine Arbeitszufriedenheit und Deine Karriere. Diesen zu finden, mag etwas Zeit und Erfahrung erfordern. Aber es handelt sich um eine Veränderung, von der Du selbst und Dein Umfeld nur profitieren können. „Mut zur Verletzlichkeit“ lautet daher die Devise!

Veröffentlicht
19.08.2022