Was gilt rechtlich als „sexuelle Belästigung“?
Im Strafrecht ist sexuelle Belästigung an körperliche Berührung geknüpft. Im Arbeitskontext (AGG) gilt: Es braucht keinen Körperkontakt. Entscheidend ist ein unerwünschtes, sexuell konnotiertes Verhalten, das geeignet ist, die Würde der betroffenen Person zu verletzen – verbal (z. B. „Komplimente“ mit sexuellem Bezug), nonverbal (z. B. anzügliche Blicke) oder digital (z. B. Nachrichten, Bilder).
Wichtig: „Arbeitskontext“ umfasst mehr als das Büro: Betriebsfeiern, Dienstreisen, gemeinsame Pausen – ja sogar private Events mit Jobbezug – zählen mit. Wer unter Alkohol/Drogen steht, ist besonders schützenswert; hier gelten strengere Maßstäbe an grenzachtendes Verhalten.
Wer ist besonders betroffen – und warum?
Betroffenheit folgt oft der Machtachse: Junge Beschäftigte, Menschen mit befristeten Verträgen und in niedrigeren Einkommensgruppen sind häufiger betroffen – nicht, weil sie „attraktiver“ wären, sondern weil Machtgefälleausgenutzt werden. Belästigung dient häufig dazu, Macht zu demonstrieren oder erst herzustellen; das erste Gefühl bei Betroffenen ist oft Scham, nicht Wut.
Und klar: Die meisten Täter sind Männer, die meisten Betroffenen Frauen – aber sexuelle Belästigung kann jede*rausüben und jede*r erleben (auch gleichgeschlechtlich).
Strukturen, die Belästigung begünstigen
- „Flache“ Hierarchien ohne klare Grenzen: Nähe wird verwechselt mit Grenzlosigkeit; Verantwortlichkeiten sind diffus.
- Intransparenz: Fälle werden „unter der Decke“ gehalten – intern fehlt Aufklärung, Betroffene erhalten keine Einblicke und stehen allein da.
- Exklusive Männerräume: z. B. „die Jungs gehen allein essen“ – Lästern über Körper/Aussehen wird „normalisiert“.
Merksatz, der in jedes Office gehört: „Deine Grenzen sind uns wichtig.“
Bin ich betroffen? Mini-Check
Wenn du unsicher bist, helfen diese Fragen (eine Mischung aus Bauch und Kopf):Gruppe 1 – Was ist passiert?
- Kannst du die Situation konkret beschreiben?
- War sie für Außenstehende nachvollziehbar entwürdigend? (z. B. Spruch vor der Gruppe statt unter vier Augen; Tonfall/Blick; „scannender“ Blick über den Körper usw.)Gruppe 2 – Kontext & Macht
- Machtverhältnis: Hätte die Person das auch gesagt/getan, wenn ihr Rollen vertauscht wären?
- Exit: Kamt du ohne Nachteile aus der Situation?
- Ressourcen: Was würdest du riskieren, wenn du dich wehrst (Job, Aufenthaltstitel, Alleinerziehend etc.)?
Bauchgefühl zählt. Wenn es sich falsch anfühlt, ist es sehr wahrscheinlich falsch – und arbeitsrechtlich relevant.
Erste Hilfe im Akutfall (ohne Held*innenpose)
- Sicherheit first. Entferne dich. Schlagfertigkeit ist kein Muss – der „Film-Spruch“ stammt von fünf Drehbuchautor*innen; du bist Mensch.
- Dokumentieren. Notiere Zeit/Ort/Wortlaut; sichere Beweise. Bei Chat-Belästigung: ganzen Chatverlauf exportieren (nicht nur Screenshots), weil sich Nachrichten heute oft löschen lassen.
- Rückendeckung holen. Sprich zuerst mit einer vertrauensvollen Stelle (Betriebsrat, Gleichstellungs-/Vertrauensperson). Dort sortierst du in Ruhe Fakten, Beweise, Strategie. Erst danach offizielle Beschwerde – klug vorbereitet.
Kein Betriebsrat/keine Vertrauensperson? Wende dich an externe Stellen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes berät kostenlos und tritt auf Wunsch schriftlich an den Arbeitgeber heran – das wird ernst genommen. Je nach Lebenslage gibt’s weitere spezialisierte Beratungen (z. B. LGBTIQ*, Menschen mit Behinderungen).
Deine Rechte, wenn der Arbeitgeber nicht schützt
- Ansprüche fristwahrend anmelden: Willst du Entschädigung/Schadensersatz, musst du das schriftlich innerhalb von 2 Monaten nach dem Vorfall geltend machen. Reagiert der Arbeitgeber nicht, bleiben 3 Monate für Klage beim Arbeitsgericht. (AGG-Fristen)
- Leistungsverweigerungsrecht: Trifft der Arbeitgeber keine Schutzmaßnahmen (z. B. räumliche Trennung), kannst du berechtigt die Arbeit verweigern – bei Fortzahlung –, bis Abhilfe geschaffen ist. Vorher schriftlich ankündigen und Beratung einholen.
- Außerordentliche (fristlose) Kündigung: Wenn die Fortsetzung der Arbeit unzumutbar ist.
(Hinweis: Das ist Information, keine individuelle Rechtsberatung.)
Du bist Zeug*in? So hilfst du richtig
- Validiere: „Ich hab’s gesehen/gehört – das war nicht okay. Brauchst du Support?“ Diese Bestätigung wirkt oft wie ein Hebel aus der Schamspirale.
- Melde, wenn es dich selbst einschränkt: Auch ohne direkt betroffen zu sein kannst du dich belästigt fühlen – z. B. durch pornografische Bilder/Nacktkalender im Teamraum. Das ist im Gesetz ausdrücklich als Belästigung genannt.
Unternehmen: 10 Dinge, die heute schon gehen
- Klare, gelebte Policy (inkl. Definition, Beispiele, Sanktionskaskade) – überall sichtbar: „Deine Grenzen sind uns wichtig.“
- Vertrauenspersonen/Beschwerdestelle – mit Verschwiegenheit und Befugnissen.
- Transparente Verfahren: Wer meldet, erhält Einblick ins Verfahren/Ergebnis – keine Informationswüste.
- Klare Zuständigkeiten – auch in „flachen“ Organisationen.
- Führungskräftetraining: Recht, Rolle, Sprache, Macht.
- Bystander-Trainings: Zivilcouragiertes Eingreifen üben.
- Externe Hotlines/Beratungen anbieten und offensiv kommunizieren.
- Sichere Feier-/Reiseregeln: Alkoholpolitik, Heimwege, „Two-Contact“-Regel.
- Kontrolllücken schließen: „Männerrunden“, Chat-Kulturen, „Wird man ja noch sagen dürfen“ – nicht laufen lassen.
- Daten sauber sichern: Meldekanäle, Beweisführung (z. B. Chat-Exporte) standardisieren.
Fazit – und ein bisschen Rückenwind
Du musst dir Belästigung nicht gefallen lassen. Du hast Rechte – und du bist nicht allein. Hol dir Support, sichere Beweise, wähle den für dich passenden Weg. Unternehmen, die es ernst meinen, sorgen dafür, dass jede Reinigungskraft, jedes Teammitglied weiß, wohin man sich wendet – und dass zugehört wird.