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Sind die meisten Bewerbungsgespräche sinnlos oder gar kontraproduktiv, weil sie dem Kandidaten gar nicht gerecht werden können? US-Experte Jason Dana* hat jedenfalls eine sehr dezidierte Meinung zu dem Thema.
"Eine Freundin von mir erlebte einmal etwas Merkwürdiges bei einem Vorstellungsgespräch. Aufgeregt wegen der ausgeschriebenen Stelle kam sie fünf Minuten vor dem Termin an und wurde von der Empfangsdame sofort in den entsprechenden Raum gebracht, wo ihre Gesprächspartner bereits auf sie warteten. Nach einem freundlichen Gespräch mit der Gruppe von Interviewern bot man ihr die Stelle an. Danach merkte eine Interviewerin an, wie beeindruckend sie es fand, dass meine Freundin so gelassen bleiben konnte, obwohl sie 25 Minuten zu spät zum Vorstellungsgespräch erschienen war. Wie sich herausstellte, hatte man meine Freundin eine halbe Stunde zu spät zum Gespräch beordert. Sie blieb deshalb so gelassen, weil sie nicht wusste, dass sie zu spät war. Meine Freundin ist nicht die Art Mensch, die cool geblieben wäre, wenn sie von ihrer Verspätung gewusst hätte, doch die Interviewer kamen zu dem gegenteiligen Schluss. Sie hätten ihre Ruhe natürlich auch als Respektlosigkeit interpretieren können, was auch keiner ihrer Charakterzüge ist. In jedem Fall wäre es falsch gewesen, von ihrem Verhalten während des Bewerbungsgesprächs auf ihre zukünftige Arbeitsleistung zu schließen. Dieses Problem ist weit verbreitet. Arbeitgeber halten ihre Vorstellungsgespräche gerne formlos und unstrukturiert und hoffen, den Bewerber so „besser kennenzulernen“. Diese Art von Gespräch wird auch bei Mitarbeitern der Zulassungsstellen von Universitäten immer beliebter, die versuchen, weniger auf Prüfungsergebnisse und andere standardisierte Messgrößen für die Qualität von Studierenden zurückzugreifen. Doch wie im Fall meiner Freundin bilden sich Interviewer für gewöhnlich eine starke, jedoch unbegründete Meinung von Bewerbern, die häufig mehr über sie selbst als über die Kandidaten aussagt. In der Personalpsychologie hat man das schon vor langer Zeit verstanden. 1979 wurde zum Beispiel die University of Texas Medical School in Houston per Gesetz dazu gezwungen, die Klassenstärke des neuen Jahrgangs kurz vor Bewerbungsschluss um 50 Studierende aufzustocken. Die 50 zusätzlichen Studierenden, die demnach zugelassen wurden, hatten im Bewerbungsverfahren das Vorstellungsgespräch erreicht, waren jedoch nach dem Gespräch ursprünglich abgelehnt worden. Ein Forschungsteam fand später heraus, dass diese Studierenden in Bezug auf Durchhaltevermögen, akademische Leistung, klinische Leistung (dies beinhaltet auch den Umgang mit Patienten und Vorgesetzten) und erworbene Auszeichnungen genauso gut abschnitten wie ihre Kommilitonen. Mit anderen Worten trug das Urteil der Interviewer keinerlei relevante Erkenntnisse zum Zulassungsverfahren bei.
Untersuchungen, die meine Kollegen und ich durchgeführt haben, zeigen, dass das Problem von Vorstellungsgesprächen tiefer geht als bloße Belanglosigkeit: Sie können schädlich sein und den Einfluss von anderen, wertvolleren Informationen über Bewerber untergraben. In einem Experiment ließen wir Studierende (unsere Testpersonen) andere Studierende befragen. Anschließend sollten sie den Notendurchschnitt ihrer Kollegen für das nächste Semester vorhersagen. Die Prognose sollte sich auf das Vorstellungsgespräch, das Kursprogramm der Studierenden und ihren bisherigen Notendurchschnitt stützen. (Wir erklärten, dass an ihrer Schule der bisherige Notendurchschnitt historisch immer das beste Kriterium für die Vorhersage zukünftiger Noten war.) Zusätzlich zur Vorhersage des Notendurchschnitts des Befragten sagten unsere Testpersonen auch die Leistung eines Studierenden voraus, den sie nicht getroffen hatten, nur auf der Grundlage des Kursprogramms und des bisherigen Notendurchschnitts. Es stellte sich heraus, dass die Notendurchschnitt-Vorhersagen unserer Testpersonen für die Studierenden, die sie nicht getroffen hatten, erheblich genauer waren. Die Vorstellungsgespräche waren kontraproduktiv. Und es wird noch schlimmer: Unsere Testpersonen wussten nicht, dass wir einige unserer Bewerber angewiesen hatten, nach dem Zufallsprinzip auf ihre Fragen zu antworten. Obwohl viele unserer Interviewer ihre Fragen frei wählen konnten, wurden manche angewiesen, nur Ja-Nein- oder Entweder-Oder-Fragen zu stellen. In der Hälfte dieser Gespräche sollten die Bewerber ehrlich antworten. Doch in der anderen Hälfte sollten sie zufällige Antworten geben. Genauer gesagt sollten sie auf den jeweils ersten Buchstaben der letzten beiden Wörter einer jeden Frage achten und sie in zwei Kategorien, A–M und N–Z, einordnen. Wenn beide Buchstaben derselben Kategorie zuzuordnen waren, antwortete der Bewerber mit „Ja“ oder wählte die „Entweder“-Option; wenn die Buchstaben nicht in dieselbe Kategorie gehörten, antwortete der Bewerber mit „Nein“ oder wählte die „Oder“-Option. Erstaunlicherweise bemerkte kein Interviewer nachweislich, dass er oder sie ein zufälliges Vorstellungsgespräch führte. Noch verblüffender war, dass die Studierenden, die zufällige Vorstellungsgespräche geführt hatten, den Grad, zu dem sie den Bewerber „kennengelernt“ hatten, durchschnittlich etwas höher einschätzten als diejenigen, die ehrliche Gespräche geführt hatten. Die wichtigste psychologische Erkenntnis hierbei ist, dass wir Informationen mit Leichtigkeit zu einer schlüssigen Geschichte zusammenfügen. Dies trifft zu, wenn, wie im Fall meiner Freundin, die Informationen (also ihr zu spätes Erscheinen) falsch sind. Und es trifft zu, wenn wie in unseren Experimenten zufällige Informationen geliefert werden. Wir können nicht anders, als Signale zu sehen, sogar in Störgeräuschen.
Unser Experiment umfasste noch einen letzten Schritt: Wir erklärten einer weiteren Gruppe von Studierenden, welche Experimente wir durchgeführt hatten und zu welchem Ergebnis wir gekommen waren. Dann baten wir sie, die Informationen, die sie bei der Vorhersage eines Notendurchschnitts gerne zur Verfügung hätten, der Reihenfolge nach zu ordnen: ehrliche Gespräche, zufällige Gespräche oder gar keine Gespräche. Bei den meisten landete „gar keine Gespräche“ auf dem letzten Platz. Anders gesagt würde die Mehrheit ihre Vorhersagen lieber auf ein Gespräch stützen, das wissentlich zufällig ist, als ihre Vorhersagen einzig und allein auf Basis von Hintergrundinformationen treffen zu müssen. Die Menschen vertrauen so sehr auf ihre Fähigkeit, wertvolle Informationen aus einem Vieraugengespräch ziehen zu können, dass sie auch die Tatsache, dass man ihnen nicht offen und ehrlich begegnet, nicht von ihrer Meinung abbringt. Doch sie liegen falsch. Was kann man dagegen tun? Eine Möglichkeit besteht darin, Bewerbungsgespräche so zu strukturieren, dass allen Kandidaten dieselben Fragen gestellt werden, eine Vorgehensweise, die Vorstellungsgespräche bewiesenermaßen zuverlässiger und etwas aussagekräftiger in Bezug auf die zukünftige Arbeitsleistung macht. Alternativ können Bewerbungsgespräche dazu genutzt werden, stellenrelevante Fähigkeiten zu überprüfen, statt locker zu plaudern und persönliche Fragen zu stellen. Unstrukturierte Vorstellungsgespräche werden wohl nicht so bald verschwinden. Bis dahin sollten wir bezüglich der Wahrscheinlichkeit, dass unsere Eindrücke einen verlässlichen Indikator für die zukünftige Leistung eines Kandidaten darstellen, große Bescheidenheit an den Tag legen." *Jason Dana ist Assistenzprofessor an der US-Eliteuniversität Yale. Sein Text erschien unter dem Titel "The Utter Uselessness of Job Interviews" in der New York Times im April 2017 und sorgt seitdem für große Aufregung in der HR-Branche. Wir publizieren ihn mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Veröffentlicht
14.06.2017